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Wie der Kopf die Klangwahrnehmung beeinflusst – Binaurale Aufnahmetechniken

Ein Kunstkopf, der als binaurales Mikrofon verwendet wird. Das zweite Mikrofon wird vom Kopf verdeckt / © Gregory Maxwell für Wikipedia

Bei der binauralen  Aufnahmetechnik werden Mikrofone an dem Kopf eines Menschen bzw. einem Kunstkopf (Dummyhead) platziert. Dabei werden die Mikrofone entweder direkt am äußeren Bereich des Gehörgangs platziert oder in unmittelbarer Nähe zum Trommelfell. Bei der Reproduktion der Aufnahme und dem Abhören über Kopfhörer wirkt das Klangbild dann äußerst realistisch, als wäre man “vor Ort”.

Dieser Artikel erklärt den Einsatz eines binauralen Headsets (anstelle einer Kunstkopf-Lösung), bei dem die binaurale Tonaufnahme am Eingang des Gehörgangs einer realen Person erfolgt.

Die Head-Related Transfer Function

Den physischen Einfluss des Kopfes drücken wir mit der sogenannten Head-Related Transfer Function , kurz HRTF , aus. Diese Übertragungsfunktion beschreibt die komplexe Filterwirkung , die den Kopf, die Ohren aber auch den Oberkörper bei der Übertragung eines akustischen Signals von der Schallquelle zum Trommelfell beeinflusst.

Diese Übertragung ist neben dem Laufzeitunterschied (zeitliche Differenz des Schalls zwischen beiden Ohren ) zwischen den Hörorganen wesentliche Grundlage unseres akustischen Lokalisationssystems – aus welcher Richtung kommt der Schall?

Größe und Form des Kopfes, der Ohren sowie der Abstand zwischen den Ohren tragen dazu bei, das akustische Signal zu filtern und subjektiv zu beeinflussen, bevor es das Trommelfell erreicht.

Wenn der Schall direkt vor der Person entsteht, ist der Einfluss symmetrisch, was bedeutet, dass der Klang an beiden Ohren gleich erscheint. Sobald sich aber der Schall zu einer der beiden Seiten bewegt, differiert auch der Klang an beiden Ohren. So variieren Pegel, der Frequenzgang und Ankunftszeit des Schalls.

Die der Schallquelle zugewandte Kopfseite erzeugt jetzt eine Reflexion, die einen Druckaufbau im mittleren Frequenzbereich verursacht. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kopfes tritt gleichzeitig im gleichen Frequenzbereich ein gewisser Abschattungseffekt auf.

Die HTRF  ist eng mit der individuellen Form des menschlichen Kopfes verbunden. Daher klingen deine binauralen Aufnahmen am besten, wenn sie mit deiner eigenen HTRF  aufgenommen wurden. Allgemeinhin erfährt jedoch jeder eine viel höhere Umhüllung des Umgebungsschalls, auch wenn die HTRF  nicht der eigenen entspricht.

Daher ist die binaurale Aufnahmetechnik für viele Anwendungen eine Überlegung wert.

In den letzten 30 Jahren wurde viel über binauralen Klang geforscht. Die Forscher der Universität Aalborg, Dänemark, haben in den 1990er Jahren umfassende Studien durchgeführt (siehe Grafik 1)

Die nächste Abbildung zeigt zwei Sätze von Kurven (HTRF´s). Jede Kurve repräsentiert einen Mittelwert über viele Probanden. Die linken Kurven wurden mit einem offenen Gehörgang ermittelt. Die rechten Kurven zeigen die HTRF´s von Probanden mit blockiertem Gehörgang.

Grafik 1: HRTF menschlicher Probanden bei
offenem und geschlossenem Gehörgang / © DPA

Die Verwendung von binauralen Headsets liegt sehr nah an der HTRF, die bei blockiertem Gehörgang ermittelt wurde (rechts).

Hörproben aus dem Stück „Good for Nothing“

Das Stück „Good for nothing“ wurde von Schülerinnen und Schülern der Dänischen National School of Performing Arts entwickelt. Nanna-Karina Schleimann war verantwortlich für Sounddesign und musikalische Kompositionen.

In dem Stück bewegt sich das Publikum zwischen den Schauspielerinnen und Schauspielern. Der gesamte Theaterraum fungiert als Bühne und hier und da finden kleinere „Zwischenfälle“ statt. Nanna entschied sich für die Verwendung von binauralen Mikrofonen für mehrere Schauspielerinnen und Schauspielern und übertrug die Signale mithilfe von Stereoempfängern und Kopfhörern an das Publikum. Auf diese Weise nimmt das Publikum unmittelbar teil.

Die Musik wurde live auf der Bühne gespielt und gemischt. Die Hörproben sind Aufnahmen, die direkt von einer Performance stammen.

„GFN Alex“: Ein Schauspieler spricht, ein anderer Schauspieler hört zu (er trägt die binauralen Mikrofone). Während dieser Szene stecken beide ihre Köpfe in einen Karton. Für die Personen im Publikum fühlt es sich nun so an, als wären sie selbst in der Box.

„Zusammensetzung“: Komposition / Soundeffekte für eine Szene

„Pose Paranoia“: Komposition / Soundeffekte für eine Szene

Up-Mix von binauralem Ton

Die binaurale Technik ist für die Wiedergabe mit Kopfhörern ausgelegt. Wenn der binaural aufgenommene Ton über Lautsprecher wiedergegeben werden soll, ist eine Korrektur erforderlich. Diese Korrektur ist im Grunde eine inverse HTRF.

Da sich die HTRF mit der Richtung ändert, ist es schwierig, diese invertierte Funktion zu ermitteln. Ein einfacher Filter nähert sich jedoch der idealen Korrektur an. Die Funktion des Filters besteht darin, die Klangbalance wieder so herzustellen, dass sie der Klangfarbe des im Kopfhörer wiedergegebenen Signals entspricht.

Grafik 2: Vorgeschlagene Filterkurve für den Up-Mix binauraler Aufnahmen für die Lautsprecherwiedergabe © DPA

In Grafik 2 wird die gezeigte Filterkurve durch Anwendung des parametrischen Equalizers von Adobe Audition  erstellt. Die meisten parametrischen Equalizer können eine Kurve wie diese zumindest annähernd erstellen.

  • Einstellungen:
  • 480 Hz Low shelf, Gain = +2 dB
  • 4 kHz Bell, Gain = -11 dB, Q = 1
  • 8 kHz Bell, Gain = +8 dB, Q = 2
  • Gesamtverstärkung = 0 dB

Wenn also eine binaurale Aufnahme gemacht wird, kann der Equalizer auf beide Kanäle gelegt werden. Dadurch ist die Aufnahme besser für die Wiedergabe über Lautsprecher geeignet.
HTRF´s sind individuell, sodass Filtereinstellungen zur Kompensation von der oberen Abbildung abweichen können.

Der unten dargestellte Verlauf wurde in einem sehr halligen Raum mit eher diffusem Schallfeld aufgezeichnet. Als Schallquelle diente rosa Rauschen, das über Lautsprecher eingespielt wurde. Ein Mikrofon mit Kugelcharakteristik (DPA 4060) hat den diffusen Schall an einem Punkt über eine Minute aufgezeichnet. Danach wurde das Kugelmikrofon durch eine Person mit einem Kondensator DPA 4560 ersetzt und der Schall wurde (auf zwei Kanälen) über eine Minute aufgezeichnet.

Eine FFT-Analyse (FFT-Größe = 8K) wurde durchgeführt. Das Spektrum des linken und rechten Kanals des binauralen Kopfbügelmikrofons wurde gemittelt. Die ermittelten Spektraldaten des Kugelmikrofons wurden dann von den gemittelten Spektraldaten der binauralen Aufnahme abgezogen. Die untere Kurve zeigt mehr oder weniger den Einfluss des Kopfes (frequenzbezogen) im diffusen Schallfeld.

Wenn das Headset von einer anderen Person getragen wird, wird das Ergebnis leicht abweichen.

Halliger Raum mit diffusem Schallfeld / © DPA

Beim Sammeln von Soundeffekten sollte das Signal so lange unbearbeitet bleiben, bis es in den Mix eingefügt wird. Das hat den Grund es so lange wie möglich so sauber wie möglich zu halten. Alternativ kann auch einfach eine „weniger aggressive“ Filterung wie ein Shelving durchgeführt werden.

Ein milder Kompensationsverlauf, ein -6 dB „Kuhschwanz“-Filter bei 2,2 kHz / © DPA

Anwendungen

Es gibt viele Anwendungen, bei denen binaurale Techniken ein völlig neues Audioerlebnis generieren können. Die wichtigsten davon stellen wir Dir hier vor:

Podcast

Zu reden oder ein Interview zu führen mit einem binauralen Headset verleiht Podcasts eine völlig neue Dimension. Der Zuhörer wird die umgebende Welt aus der (akustischen) Perspektive des Podcasters erleben. Gruppendiskussionen werden im Vergleich zu anderen Techniken eine viel größere räumliche Auflösung und Verständlichkeit bieten.

Erstellung von Soundeffekten

Sounddesigner sind immer auf der Suche nach aufregenden Klängen. In Situationen, die eine unauffällige Aufnahme erfordern (das Mikrofon soll nicht sichtbar sein), kann das 4560 Headset eingesetzt werden. Nach der Aufnahme kann die Klangfarbe angepasst werden, um den gewünschten Zweck zu erfüllen.

Eine binaurale Aufnahme kommt der Realität am nächsten – dem Erleben, was die Ohren tatsächlich hören.

Freihändige, aktive Aufnahmen

Wie wäre es mit Aufnahmen beim Tanzen in der Parade des brasilianischen Karnevals? Oder einer Aufnahme des Gulfoss-Wasserfalls in Island, umgeben von der Kraft des herabstürzenden Wassers?

Diese Art der aktionsorientierten Aufnahme ist problemlos mit einem binauralen Headset möglich. Es erlaubt dem Anwender die Aufnahme realistischer Audiodaten in praktisch jeder Situation – und das extrem unauffällig.

Geräuschkulissen analysieren

Geräuschkulissen von Städten, Straßen, Parks, Spielplätzen, Märkten usw. werden aus wissenschaftlicher Sicht analysiert. In einem Umweltkontext helfen uns diese Geräuschkulissen, die akustische Ökologie eines Ortes zu verstehen. Wir können beginnen zu erfassen, wie Sounds miteinander interagieren. Die Anwendung binauraler Techniken kann diesen Analysetypen eine emotionale Dimension verleihen.

Sounds für die Spiele-Industrie

Die meisten Gamer tragen Headsets, weshalb dies die perfekte Anwendung für binaurale Aufnahmen ist. Auf diese Weise erstellte reale Szenenaufnahmen werden in den finalen Mix eingeblendet, um ein äußerst realistisches Audioerlebnis zu erzielen.

Ton für AR/VR

Der Sound für Virtual Reality  und Augmented Reality  basiert auf binauralem Audio. Der Ton wird über das Headset am Kopf oder auch nach Anbringen an eine Puppe oder einen Kunstkopf aufgenommen.

Theateraufführungen

Das moderne Theater ist bestrebt, dem Publikum Theaterstücke auf vielfältige Weise darzubieten, wobei manchmal herausfordernde neue Technologien hinzugezogen werden. Immer mehr Kopfhörer, Mobilgeräte, Bluetooth, Wi-Fi, Bewegungserfassung, 3D-Audiosysteme usw. finden ihren Weg ins Theater, um erweiterte Erfahrungen zu ermöglichen.

Indem die Darsteller mit binauralen Headsets und das Publikum mit Kopfhörern ausgestattet werden, wird das Erlebnis des Publikums direkt auf die Bühne transportiert. Neue Dimensionen ermöglichen eine sehr intime Erfahrung.

4560 CORE Binaural Headset Microphone / © DPA

Dokumentation von Soundsystemen

Sounddesigner, Toningenieure und Systemingenieure können bei der Dokumentation der Leistung eines Systems von binauralen Aufzeichnungen profitieren.

Durch die Verwendung von Referenzmusik (oder Rosa Rauschen) auf dem PA-/SR-System kann ein Anwender von einer Position zur anderen wechseln und während der Aufzeichnung der gesamten Session Position und Eindruck kommentieren. Dies bietet die Möglichkeit, die Leistung eines bestimmten Soundsystems an verschiedenen Plätzen zu beurteilen.

Akustische Beurteilung von Konzertplätzen

Wie beim Testen des Sounddesigns eines Veranstaltungsorts können dort stattfindende Events ebenso binaural aufgezeichnet werden. Wieder kann die Erfassung verschiedener Plätze in einer Halle oder einem Stadium Klangbeispiele für eine Beurteilung liefern – und die Rückerinnerung an die Veranstaltung unterstützen.

Aufnahme einer Band

Musiker können ihre Band aufnehmen, um eine sehr genaue Vorstellung von dem Gesamteindruck zu bekommen, wie sie auftreten und wie sie im Mix positioniert sind.

Psychoakustische Experimente

In der psychoakustischen Forschung ist die Anwendung binauraler Techniken weit verbreitet. Binaurale Aufnahmen können wesentlich detaillierter sein als andere Techniken.

Klangabbildung von Kopfhörern

Der Vergleich von (ohraufliegenden) Kopfhörern kann mithilfe binauraler Mikrofone unter den Ohrpolstern durchgeführt werden.

4560 CORE by DPA Binaurales Kopfbügelmikrofon

Das 4560 Binaurale Kopfbügelmikrofon besteht im Wesentlichen aus zwei 4060 CORE by DPA Miniaturmikrofonen mit Kugelcharakteristik, die an zwei Ohrbügeln angebracht sind (wie vom 4266 Flex-Nackenbügeltyp bekannt). Die Mikrofone werden als Stereopaar selektiert nach einer Empfindlichkeitsabweichung innerhalb ±1.5 dB.

Das eigentliche Headset ist ergonomisch gestaltet, angenehm zu tragen und einfach zu justieren. Es passt sich jeder Ohrgröße und Kopfform an, sitzt dabei sicher und ist nahezu unsichtbar. Die mitgelieferten Schaumstoff-Windschütze sichern die Position im Ohr und dämpfen gleichzeitig Windgeräusche.

Für einige (wissenschaftlichere) Zwecke ist es üblich, die im binauralen Headset verwendeten Mikrofone zu kalibrieren. Am einfachsten ist es, einen akustischen Kalibrator zu verwenden, der eine bekannte Frequenz und einen bekannten Schalldruckpegel erzeugt, üblicherweise 1000 Hz / 94 dB SPL. Auch die Verwendung eines Pistonphons ist möglich (üblicherweise 150 Hz / 94 dB SPL).

Ein spezieller Einsatz für alle Kalibratoren mit einer Öffnung von 1″ ist ebenfalls bei DPA erhältlich: DWA4060 Kalibratoreinsätze für 4060-Mikrofone (das ist der Mikrofontyp, der für das 4560 Binaurale Kopfbügelmikrofon verwendet wird).

Wenn kein Kalibrator vorhanden ist, ist es auch möglich, die Mikrofone nebeneinander vor einem Lautsprecher anzuordnen und die Mikrofone mittels Schmalbandrauschen zu kalibrieren.

Hochauflösende Aufnahmen mit dem MMA-A Digitalen Audio-Interface

DPA bietet ein spezielles Tool für binaurale Aufnahmen: das MMA-A Digitale Audio-Interface. Das 4560 wird über die MicroDot-Anschlüsse mit dem MMA-A verbunden. (Wenn sich das weiß markierte Mikrofon am linken Ohr befindet, wird der weiß ummantelte Stecker mit „l“ verbunden, dem linken Kanal des Stereo-Signals.)

Danach wird das Interface mit einem iPhone verbunden. Die App „DPA MMA-A“ kann über den App Store bezogen werden. Nach der Installation wird im Abschnitt MODE die Option STEREO ausgewählt. Bei Außenaufnahmen kann der Low-Cut-Filter aktiviert werden (wird im Stereo-Modus für beide Kanäle simultan aktiviert).

Digitales Audio Interface
– Zweikanal-Mikrofonvorverstärker und Analog-Digital-Wandler / © DPA

Der Ton kann mit der bevorzugten Stereo-Aufnahmesoftware auf dem iPhone aufgezeichnet werden. Das MMA-A unterstützt Aufnahmen mit bis zu 24 Bit / 96 kHz. Soll die Aufnahme über ein USB-Device wie einen Laptop erfolgen, unterstützt das MMA-A auch diese Lösung.

Beide Tools, einmal das 4560 CORE binaurale Kopfbügelmikrofon  und das MMA-A Digitale Audio-Interface  sind bei Thomann  erhältlich. Probiert es mal aus, Thomann bietet eine 30-tägige Rüchgabegarantie an.

Referenzen

  • Henrik Møller,
  • Michael Friis Sørensen,
  • Dorte Hammershøi,
  • Clemen Boje Jensen: Head-Related Transfer Functions of Human Subjects. J. Audio Eng. Soc., Vol 43, No 5, 1995 May.

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